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Im Altbauviertel - Part II


Es ist Herbst. Die Fenster sind zum Lüften geöffnet, und von unten höre ich die Jugendlichen, die sich unseren Hinterhof zu ihrem Treffpunkt auserkoren haben. Vor einer Woche hat eine Baufirma Gerüste am Haus aufgestellt, um Teile der Fassade zu renovieren. Im Hof sind deshalb Säcke mit Mörtel gestapelt, diverse Utensilien wie Betonmischer, Alurohre und Planen lagern verstaut in einer Ecke. Die Jugendlichen zerren respektlos das Material heraus, turnen darauf herum, bauen sich aus Brettern und Schutt phantasievolle Rampen, an denen sie ihre Skateboard-Kunststückchen vollführen.

Seit die Gerüste stehen, hat sich eine neue Mode unter den Halbwüchsigen breitgemacht: Sie benutzen nicht mehr wie bisher den Fahrstuhl, wenn sie auf die Straße wollen, sondern sie steigen durch ihr Zimmerfenster nach draussen auf das Gerüst und klettern (mit dem Kopf nach unten) die Streben herunter, wobei sie, nicht zuletzt dank der Schwerkraft, ein atemberaubendes Tempo erreichen. Je schneller einer den Weg nach unten schafft, desto höher wird seine Rangstellung in der Clique.

Im obersten Stockwerk unseres Hauses wohnt eine Familie mit drei Kindern, alles Jungs. Der Älteste von ihnen, ein Sechzehnjähriger, ist schon seit längerem der Anführer der Jugendlichen. Was den Gerüstabstieg betrifft, ist er sozusagen der Lokalmatador: er hat in wenigen Tagen eine spezielle Technik entwickelt, bei der er sich fast nur noch fallen lässt und lediglich ein mal pro Etage an die Streben greift, um abzubremsen. Verrückt genug, was die Jungs da treiben (bevor man es nicht selbst gesehen hat, kann man es kaum glauben), aber wenn man dem selbstmörderischen Geklettere des Anführers zusieht, stockt einem der Atem.


Ich will gerade mein Fenster wieder schließen und werfe einen Blick nach draussen in den Verhau aus Alu-Streben, der vor den obersten Etagen auf der Aussenseite mit Plastikplanen abgedeckt ist. Die letzten Tage waren stürmisch und verregnet. Noch immer flattern die Planen rhythmisch in den Böen des Nieselregens. Bei diesem Wetter hält sich niemand gerne draussen auf.

Plötzlich nehme ich eine Gestalt wahr, die sich hoch droben zwischen den Metallstangen bewegt. Zuerst glaube ich, den Lokalmatador zu erkennen, denn er ist der einzige, der den Mut hat, aus dieser Höhe den Abstieg zu wagen. Es ist jedoch ein anderer Junge, das Einzelkind eines jugoslawischen Ehepaars, das im vorletzten Stock wohnt. Der etwa vierzehnjährige Jugoslawe gehört nicht zum Kern der Clique. Wahrscheinlich will er nur üben, um seine soziale Stellung in der Gruppe zu verbessern.

Gespannt beobachte ich ihn. Er hängt bereits kopfunter am Geländer eines Balkons und starrt in die Tiefe. Es sieht nicht so aus, als ob er sich traue, denn er hält sich fest angeklammert. Er überlegt noch, ob er es wirklich wagen soll, und als ihm bewusst wird, dass zwei Stockwerke unter ihm die Plane endet und die Streben der restlichen sieben Etagen regennass und rutschig sind, ist er kurz davor, wieder ins Haus zurückzusteigen.

Doch dann entdeckt er mich. Einen uncoolen Spießer, der den Fahrstuhl benutzt. Jetzt gibt es kein zurück mehr. Sich diese Blöße zu geben, verbietet ihm sein jugendlicher Stolz. Sein verkrampfter Griff löst sich und die Schwerkraft zieht ihn nach unten. Artistisch verhakt er seine Füße in den Querstreben, während seine Hände weiter nach unten greifen. Schon beginnt er, die Technik des Lokalmatadors zu imitieren, lässt eine Stange aus und fängt sich auf der nächsten ab. Als er den unteren Rand der Plane erreicht, ist er nur noch zwei Stockwerke über mir und ich sehe jetzt, dass er vor Angst zittert. Es hat den Anschein, als wolle er jetzt wieder eine Strebe auslassen, aber er zögert, denn er weiss, dass die nächsten Stangen feucht sind vom Regen.

Er lässt sich fallen. Diesmal lässt er sogar zwei Querstreben aus und gewinnt ein beachtliches Tempo. Als er wieder zugreift, um sich abzubremsen, rutscht der Gummibelag seines Turnschuhs von der nassen Stange, die Hände können sein Gewicht nicht auffangen und er fällt fast zwei komplette Etagen, bis er mit der Schulter auf ein Metallrohr schlägt, das direkt vor meinem Balkon verankert ist. Dabei vibriert das ganze Gerüst und erzeugt einen tiefen Klang mit einer Vielzahl von Obertönen.

Der Junge ist tonlos zusammengesackt, hängt mit schweren inneren Verletzungen verkrümmt über Rohr und Balkongeländer, kaum zwei Meter von mir entfernt. Offensichtlich hat er einen Schock. Sein letzter Funken Bewusstsein sagt ihm jedoch, dass er von einem Erwachsenen beobachtet wird, und wie hypnotisiert versucht er, den Abstieg unbeirrt fortzusetzen. Dann gleitet er mit ausdrucksloser Miene langsam von der Strebe und lässt sich wieder fallen. Ausser seinem Stolz hat er nichts mehr zu verlieren. Als Höhepunkt seiner Darbietung rauscht er, ohne auch nur den Versuch, sich abzufangen, fünf Stockwerke hinunter, bis er entgültig auf der Betonplatte des Hofes zerschmettert.



© 2003 · B.O.Rasch

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