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Am Fluss


Eines Tages saß Rogner auf einer Bank über dem Fluss und spielte sich auf der Gitarre etwas vor. Da kam ein Mädchen auf einem Rad herangefahren und hielt an der Bank, um seinem Spiel zu lauschen. Rogner bemerkte sie erst nicht, aber als er sie sah, erkannte er in ihr das Mädchen, das er ein Jahr zuvor in der Vorstadt angesprochen hatte. Damals waren sie sich dann aber nur noch einmal flüchtig im strömenden Regen begegnet. Nachdem er ihr dies erzählt hatte, erinnerte auch sie sich wieder und er bat sie, sich zu setzen, falls sie Zeit hätte. Sie sagte, sie habe immer Zeit, stellte ihr Rad ab und setzte sich neben ihn. Rogner spielte weiter auf der Gitarre. Als er sie nach einer Weile wegstellte, fragte ihn das Mädchen, ob er oft hier wäre.

«Nicht oft», sagte Rogner, «denn mir gefällt's hier, und wenn ich zu oft herkäme, würde es mir nicht mehr gefallen.»

«Was gefällt dir hier?» fragte das Mädchen.

«Die Bäume am anderen Flussufer», antwortete Rogner, «der Fluss, das dahinfließende Wasser und das Blätterdach über meinem Kopf.»

Das Mädchen sah sich alles schweigend an; die Bäume, den Fluss, die Blätter, dann Rogner. Sie lächelte. Dann stellte sie Fragen und Rogner dachte meistens lange nach, bevor er ihr antwortete. Sie unterhielten sich über das Leben, die Freiheit und die Menschen. Eigentlich war es Rogner, der redete und sie, die zuhörte um ihn immer dann anzusehen, wenn er eine Pause machte oder mitten in einem Satz ein Ende suchte. Sie hatte braune Augen und geflochtenes braunes Haar. Ihre Nickelbrille erinnerte ihn an seine Großmutter. Vielleicht waren es auch ein paar Haarsträhnen, die ihr, wie bei seiner Großmutter, dünn und lockig über die Stirn hingen. Etwas Beruhigendes strömte von diesem Mädchen aus. Rogner hätte ihr noch stundenlang erzählen können, aber er hielt immer wieder inne und konzentrierte sich auf die Wellen, die leise plätschernd auf die Ufersteine schlugen. So verging die Zeit.

Inzwischen war es kühler geworden und der Wind blies vom Fluss herauf. Das Mädchen zog seine Strümpfe an, denn es war barfuß in den Sandalen. Dann stand sie auf.

«Ich gehe jetzt», sagte sie.

«Bis dann», erwiderte Rogner und griff wieder zu seiner Gitarre. Das Mädchen stieg auf sein Rad.

«Wir sehen uns bestimmt noch mal wieder», sagte sie.

«Bestimmt», nickte Rogner und fing an zu spielen. Bevor das Mädchen losfuhr, strich sie Rogner ganz sacht über die Haare. Rogner drehte sich langsam um, aber sie war schon weggefahren.



© 1980 · B.O.Rasch

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