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Der Kinderfriedhof


Ich hatte den alten Friedhof sofort erkannt. Ich trage blinde Küchenfenster mit ihren staubigen, weissen Rahmen unter dem rechten Arm, eine altnarbige, flache, braunfaltige Ledertasche an der linken Hand.

Ein schmutziger Hinterhof, ungepflastert, die erdigen Hügel, besetzt mit kleinen Grabsteinen, Lindenbäume, dichtkronig aneinandergeschmiegt, das abendlich warme Licht einer bald untergehenden Sonne filternd, bilden das Dach über einer friedlich-seltsamen Atmosphäre an der Grenze zum Grauen.

Urplötzlich aus den Schatten der Hofecken und Nischen auftauchende Kinder, hier aufgewachsen zwischen den himmelhohen, fensterlosen Hauswänden, von den Jahrzehnten beschmutzte Klinkerfronten, vielfältig verwittert wie die grauen Menschen, die unten flanieren, zur Arbeit, nach hause, zur Arbeit, nach hause...

Diese Kinder schauen mich an, teils verwundert, teils zufrieden, erwartend. Ich glaube, ich war früher schon einmal hier... das Murmeln von Staubflocken, ich streiche mit den Fingern meiner Kinderhand über lackiertes Holz. Das faszinierende Glitzern eines Sandkörnchens. Ein helles Glimmen, das von aussen eintritt, heller, hell, da..., alles verblasst...

Ein dämmriges, sanftes Licht über dem Platz; ich gehe hindurch. An der Wand stelle ich die Fenster in einer Reihe ab. Eins. Zwei. Drei. Vier. Leider werden sie unten sandig, wenn ich sie hier hinstelle, aber stehen wir hier nicht alle auf knirschendem Grund...?... ein Schemen... eine Erinnerung, doch ich kann sie nicht greifen.

Öffnung der Ledertasche: der bittere Geruch von Gegerbtem säuselt mir entgegen, rieselt mir winzigdünne Worte ins Ohr, Begriffe, Seligkeiten, die ich nur erahnen kann, in einem illuminierenden Raum. Milchglaslampenschirme. Die hohe, unerreichbare Decke im Stuckrahmen eingefasst. Pflanzengirlanden im Tapetenmuster, vertraute Stimmen, ein dunkler Schrank mit Glastüren, eingravierte Spielereien, die Straße. Entferntes Schlagen eines Kirchenglockenquartettes, die Gardinen bewegen sich im Wind, wieder vertraute Stimmen. Der Stoff auf der Sessellehne ist dünngestreichelt, draussen zieht jemand einen schweren Karren über das Pflaster. Gesang. Als Ausgleich dazu der schweigende Teppich unter meinen Schuhen, Hüter von Kontinenten, Inseln, Wäldern, Gebirgen, Gesichtern, Fratzen. Da oben in der Ecke sitzt eine kleine Spinne und da unten am Türpfosten sitzt eine kleine Fliege. Von oben nach unten, immer von oben nach unten...

Ein dunkelblauer Umschlag aus fester Pappe. Abgegriffen, fettig und ein Duft nach Buntmalstiften. Auf dem Grund der Tasche, sandiges Miniaturgeröll, ertaste ich einen Bleistift. Ins Freie gezogen, halte ich ihn wie ein warmes Messer. Es ist ein grüner Buntstift. Einige der Kinder schreien plötzlich etwas in meine Richtung. Die sich überschlagenden Worte klingen wie: Pass auf den Hals auf! Ich starre voll Unverständnis zu ihnen hinüber. Dann, noch ein paar Grade schriller so etwas wie: Wirf es schnell weg! Ohne nachzudenken hole ich aus und versuche den Stift über die Grabreihen hinweg zu den Kindern zu werfen. Es misslingt; der Stift beschreibt eine schwache Kurve und landet in der Nähe eines Baumes, an eine Wurzel kullernd. Dort liegt er nun, ein blauer Buntstift.

Während die Kinder in ihre Verstecke zurückhasten, wie struppige Kaninchen, die, in einer verdorrten Wildnis auf den Regen harrend und von heranrollendem Donner aufgeschreckt, in die hohlen Arterien ihres unterirdischen Labyrinthes flüchten, beginne ich, den blauen Umschlag aus der Mappe zu ziehen. Ich tue es vorsichtig, der Spalt der Tasche ist wie ein ledernes Maul, das bei der nächsten hastigen Bewegung zuschnappen kann. Eine von tausend winzigen Narben übersäte Vagina, deren Muskeln und schlierigen Häute sich gebieterisch, aber dennoch sanft um mein Handgelenk zu schließen beginnen, um die erzwungene Geburt eines Umschlages aus Pappe zu verhindern. Die Tasche ist mittlerweile nach unten gewuchert, ein seidenblauer Teil von ihr umfließt amöbenhaft meinen Unterleib und betastet Schenkel, Knie, Waden, von oben nach unten, immer von oben nach unten. Wollüstige, klebrige Hitze. Der Druck auf meine Lenden wird verstärkt, pulsierende Wärme bedrängt mein Geschlechtsteil. Das Gewicht dieses Sukkubus zieht uns auf den sandigen Boden; dort verweilen wir, in der tiefen Dämmerung mehrfach gespiegelt von den Fenstern, die dort wie verräterische Komparsen, bereit zur Exekution, an der Mauer stehen. Ich ziehe meine Hand zwischen den sehnsüchtig pressenden Lippen hervor, winde mich aus einem seidigen Knoten von heisstropfenden Versprechungen, Schwüren, Hoffnungen, die in einem immer leiser werdenden Gewisper versiegen...

...ich weiss, dass ich früher schon einmal hier war... es fühlt sich jetzt weicher an. Hellblauer Himmel über dem Rand. Der Horizont ist der Rand. Da sind die Berge. Da sind noch mehr Ränder, die sich bewegen. Ich höre die vertrauten Stimmen. Es fühlt sich weich an... immer von oben nach unten... alles ist gut, sagt die Stimme zu mir, es ist alles wieder gut...

Die Schatten sind nun in eine frühe Nacht hineingewachsen, in der die Stämme der Linden das diffuse Flimmern der Schwärze vertikal unterbrechen. Bald verdeutlichen sich die tiefgrauen Sprenkel am Boden zu abgerundeten Quadern und Kreuzen, zu Grabsteinen. In der Hand halte ich ein Stück Pappe. Den dunkelblauen Umschlag aus der Tasche. Ich weiss jetzt, dass in diesem Umschlag ein Zettel steckt. Ein Zettel, auf dem die Namen der Kinder stehen, die hier begraben sind. Die Namen der Kinder. Namen, an die sich niemand erinnert. Schicksale, die sich zutrugen zwischen den Mauern dieser Stadt. Jetzt sind ihre kleinen Körper da unten... von oben nach unten... es fühlt sich nicht mehr weich an... immer von oben nach unten... ich höre die vertraute Stimme nicht mehr... von oben nach unten... jemand steht auf knirschendem Grund... von oben nach unten... etwas kommt schnell näher... von oben nach unten...

Ich kann nichts mehr sehen, doch ich taste mich voran. Gleich. Irgendwann einmal gab es hier jemanden. Und war da nicht auch ein Küchenfenster? Und hat nicht die Mutter herausgeschaut? Gleich hier. Und hat sie nicht geschrien? Da liegt immer noch der Buntstift. Gleich hab' ich ihn. Ich weiss es genau, er war blutrot...



© 1987 · B.O.Rasch

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