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Schildrüsenbeschleunigung


Sie hatte ein Schild auf dem weissen Kittel, es war ungewöhnlich, erinnerte mich eigentlich an ein Krankenhaus, obwohl ich doch beim Hausarzt war. Den Namen konnte ich mir nicht verinnerlichen, schon garnicht ihn lesen. Van de irgendwas, eine seltsame Aneinanderreihung von Buchstaben verhinderte in ihrer Fremdheit meine Wahrnehmung. Gut, Holländerin soweit war das sicher - und Praktikantin oder wie man sowas nennt.


«Sie haben also einen Lehrling.» sagte ich. Es tat sich eine Art Unstimmigkeit auf, er relativierte, und sie pflichtete aus ihrem Sprachverständnis heraus bei - ich merkte, oh... sie lässt ihn als Bewerber gelten, und mir ging auf, welche wunderbare Erfahrung den Alltag meines Hausarztes durchflutete - «Ja, ein Lehrling, das ist schon richtig.» und sie hielt das Stethoskop an meine Brust, die sie nur ganz scheu musterte.


Er starrte konzentriert auf seinen Bildschirm, flat screen, las meine Krankenakte. Die Holländerin blickte mich wohlwollend an. Sie hatte einen zu kleinen Busen, stellte ich sofort fest. Aber einen wachen Geist, stellte ich ebenfalls fest. Sie war jung, Herr K. - ich habe ihn niemals Doktor nennen wollen - war ganz begeistert und ging in seiner Lehrmeisterrolle vollkommen auf.


«So, sie schwitzen nachts stark und haben seit längerem Durchfall - und sie haben leichten Haarausfall!»

«Wie, Haarausfall?», das hatte ich nicht angegeben. Verwundert griff ich mir in die Haare und zupfte daran; ich blickte auf meine Finger, erschrak leicht und sagte: «Fünf!»


Wie bei einem überraschenden Schachzug des Gegners saß ich da und sog die Situation in mich ein.

«Ich habe den Eindruck, als wüssten sie schon Bescheid, oder dass sie eine Vermutung haben.»

Er lehnte sich lächelnd zurück, und mit einer galanten Handbewegung zu Fräulein Vdi sagte er: «Frau Vdi wird es ihnen sagen!» Er legte sogar noch einen drauf und ergänzte: «Es ist eine typische Examensfrage.»

Oh, plötzlich wurde mir gewahr, dass die Anwesenheit von Fräulein Vdi richtig Dynamik in eine Konsultation bringt. Plötzlich spürte ich auch die unglaubliche Wärme, die von ihm ausging. Er hatte sie als Schülerin ins Herz geschlossen, wollte sie an möglichst vielen Erfahrungen teilhaben lassen, er sah, dass sie begabt war. Fragmente, Möglichkeiten und Wahrscheinlichkeiten ziehen an meinem Geiste vorbei. Schwach erinnere ich mich an seine Tochter, irgendwie arbeitete sie mal in der Praxis. Sie hatte nicht studiert, wie war sie eigenlich? Ich vermute wie ein Fisch ... schwer zu beeinflussen. Hier war nun eine der Töchter, wie er sie sich gewünscht hätte. Einer der Mann sein Wissen weitergeben kann und ganz in diesem Weitergehen aufgehen kann. Sie reagierte auch wie vor einem Prüfungsausschuss und sagte, nachdem kurze und große Verunsicherung ihr Gesicht überrollte: «Die Schilddrüse!»

«Sie verbrennen innerlich, alles geht furchtbar schnell. Der Stoffwechsel überschlägt sich... das kommt wohl von der Schilddrüse!» konstatierte er nochmals ausführlicher. «Ich sagte ihnen ja schon einmal, irgendwann müssen sie einen Eingriff vornehmen lassen.» Meine Rückenhaut zog sich kurz zusammen und unwillkürlich musste ich den Unterkiefer schütteln.


«Ja, vielleicht haben Sie Recht, manchmal habe ich auch das Gefühl es geht alles zu schnell bei mir. Alles geht gleich ins Extreme. Wenn ich arbeite, kann kaum jemand mithalten, ich agiere immer kurz vor dem roten Bereich. Arbeite ich mit Menschen zusammen, kriegen sie auf Dauer das Gefühl nichts Wert zu sein, da sie spüren, dass wenn sie nicht da wären, würde ich Ihr Pensum ohne Aufhebens mit erledigen. Wenn ich etwas lerne, ich kann mich nicht bremsen, auch noch das unwichtigste Detail eines Fachgebietes zu studieren. Wenn ich trinke, kann auch niemand mithalten, in der Regel trinke ich mich selbst unter den Tisch. Ich hasse diese Energie mittlerweile, denn sie lässt mir keinen Frieden... keine Partner... und keine Freunde - und Sie denken, das kommt alles von dieser durchgedrehten Schilddrüse?»


Moment mal, wer hat hier eigentlich eine Analyse zu machen? Ich erinnerte mich, schon vor Jahren hatte ich mal arge Probleme mit der Schilddrüse. Ich war permanent müde, kam nicht aus dem Bett und war den ganzen Tag schlaftrunken. Herr K. verschrieb mir Hormone. Ich nahm sie, und in wenigen Tagen erfuhr ich eine totale Besserung. Es blieb jedoch nicht dabei, es besserte sich so sehr, dass ich gar nicht mehr stillsitzen konnte. Ich war hyperaktiv, wurde immer leichter reizbar und neigte zu übertriebenen Reaktionen.

Eines Abends kam ich in den Proberaum. Wir hatten mal wieder eine neue Formation zusammengestellt, Weltra, Giggi, alle waren wieder mal dabei. Weltra trichterte uns eines seiner komplizierten Sücke ein. Es wurde kreuz und quer durch den Quintenzirkel gesprungen und je krasser und aprupter sich die Sprünge anhörten, desto stolzer war Weltra über seine intellektuelle Schöpfung. Gut, an diesem Abend klappte jedoch nichts. Jeder war unkonzentriert bei der Sache und nudelte rum. Weltra und Giggi spielten gleichzeitig Solo, jeder ein anderes. Der Bassist probierte plötzlich 'out' zu spielen und mir platzte der Kragen. Ich nahm die Finger von den Tasten und blickte so lange finster in die Runde bis alle aufhörten zu spielen. Sofort schrie ich los: «Ihr Arschlöcher! Könnt Ihr denn gar nicht spielen, ihr Wichser! Jeder masturbiert hier mit seinem Instrument vor sich hin, niemand hört auf den anderen!» Ich stampfte zweimal auf den Boden. «Mit Sicherheit könnt ihr nicht mal eine Frau befriedigen, mit eurer pupertären Gesinnung, geschweige denn Musik machen!»

Alle erschraken und sahen mich fassungslos an. Die Stille war lang. Weltra fragte schließlich in die Stille hinein: «Hast Du was eingenommen?» Er war ganz ernst... sagte es ohne jeglichen provokanten Unterton.

Ja, da fiel es mir ein, aber erst tags darauf: die Schilddrüsenhormone. Ich war wohl, wie sich herausstellte, 'falsch eingestellt'.


«Ja, wir sollten das untersuchen.» sagte Herr K. «Es wird ein völlig harmloses und nur leicht radioaktives Material gespritzt.»

«Ja, ich weiss, Herr K., die Halbwertszeit dieses Isotops liegt bei zirka drei Stunden. Aber wenn sie das Wesen der Exponentialfunktion kennen, so werden sie auch wissen, dass es nicht mehr aus dem Körper verschwindet. Die Kurve nähert sich niemals der Asymptote, genau so verbleiben die Reste der Isotope in mir... jedenfalls für mein Zeitfenster gesehen. Ich stimme zu.»

«Wir werden trotzdem vorher eine Ultraschalluntersuchung durchführen. Frau van de irgendwas, sie werden das machen!»

Aha, Versuchskaninchen bin ich jetzt auch noch, obwohl ich glaube, meine Brusthaare haben ihr gefallen. Ich werde das T-Shirt freiwillig ausziehen.

Wir gingen in die kleine Kammer, in der das Ultraschallgerät stand. Ich kannte es schon, von früheren Untersuchungen, konnte sogar kleine Hilfestellungen geben. Man ließ mich mal alleine in diesem Zimmer, und zum Zeitvertreib habe ich die Funktion studiert.


Ich zog das T-Shirt aus, sie lächelte und schmierte mir das durchsichtige Gel auf meinen Hals, den ich ihr entgegenreckte. Dann setzte sie den Sensor an. Es war Mittagszeit, während ich intensiv ihre Augen studierte, die auf dem Monitor hafteten - ich sah sofort, dass sie nichts sah - überlegte ich, ob ich sie, oder beide zum Essen einladen sollte. Es waren blaue Augen mit grünen Einfärbungen um die Pupille. Ich versuchte mir ihre Augen vorzustellen wenn sie einen Orgasmus hat. Es funktionierte nicht, ich wusste, sie hält sie geschlossen. Erst in fünf bis zehn Jahren wird sie sie öffnen, je nach Liebhaber. Ich vergewisserte mich nochmals: «Schon spät, sie haben doch sicher Hunger?» «Oh ja, sehr. Ich bin auch noch nicht Essen chewäisen.» Ich schielte nochmals auf ihren Busen und mit gekrümmtem Hals schwieg ich dann weiter.


Nach der Blutuntersuchung ging ich nochmals zur Sprechstunde. Ein verlegener Herr K. erklärte mir, übrigens alleine, dass entgegen aller diagnostischer Logik, meine Schilddrüse prächtig normal arbeiten würde. Das Hormonbild wäre vollkommen ausgeglichen.

Anscheinend wusste nur ich etwas über das Hormonbild bei der Diagnose.



© 2001 · J.G.Glowka

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