Die Springmaus
Ich bin abends mit Freunden in einen Kinopalast gegangen, der in einem großen Gebäudekomplex untergebracht ist und mehrere Vorführsäle besitzt, die im Erdgeschoss und im 1. OG verteilt sind. In den Etagen darüber befinden sich angemietete Büros und Sitzungsräume diverser Firmen. Im prunkvoll mit Marmor verkleideten Foyerbereich gibt es Kioske, Theken und Garderoben.
Wir haben uns auf Sitzen in den vorderen Reihen niedergelassen, das Licht ist noch an, und wir warten auf den Beginn des Films. Insgesamt sind noch etwa hundert Besucher da, die alle schon platzgenommen haben. Im Saal hängt das übliche leise Gemurmel.
Unser Film ist an diesem Abend die einzige Vorstellung, so dass der Rest des riesigen Gebäudekomplexes wie ausgestorben ist.
Seit die letzten Besucher den Saal betreten haben, ist jetzt etwa eine Viertelstunde vergangen. Obwohl die Türflügel noch offen stehen, ist klar, dass keine weiteren Gäste mehr eintreffen werden, und wir wundern uns, warum der Einlass nicht endlich geschlossen wird, damit der Film beginnen kann.
Zwischen der Leinwand und der vordersten Sitzreihe, sowie auf den Gängen verteilt, fallen mir nun mehrere Personen in einer Art grauen Uniform auf. Wir haben sie bisher nicht beachtet, weil wir sie wohl für Kinopersonal gehalten haben.
Endlich wird das Licht gedimmt, bis uns nur noch die Vorhangspots und die roten Lämpchen über den Notausgängen von der Finsternis trennen. Der Leinwandvorhang öffnet sich und gleich wird uns das große, weisse Rechteck entgegenleuchten.
Ich bemerke, wie ein weiteres Mitglied der Uniformierten durch eine kleine Seitentür hereineilt und sich mit einer Person berät, die sich bisher abwartend und unauffällig im Hintergrund aufgehalten hat und die der Anführer dieser grauen Gruppe zu sein scheint.
Was die Besucher nicht wissen: Die graue Gruppe ist ein Spezialkommando mit dem Ziel, ein Wesen zu eliminieren, das sich in den oberen Etagen des Kinopalastes aufhält. Bei dem Wesen handelt es sich um das letzte Exemplar einer exotischen Springmausgattung, welches sich in einem Wandschrank in einem der Büroräume verschanzt hält. Ich erinnere mich plötzlich daran, vor längerem in diesem Bürozimmer gearbeitet und manchmal auch übernachtet zu haben, wenn ich keine Lust hatte, zu später Stunde noch heimzufahren.
Damals gab es hin und wieder Störungen in den Strom- und Netzwerkleitungen, die darauf zurückzuführen waren, dass im Verteilerkasten (der sich im oberen Fach des Wandschrankes befindet) Fehlschaltungen und Kurzschlüsse auftraten. Die eigentliche Ursache war diese Springmaus, die zu jener Zeit bereits im Verteilerkasten lebte. Damals wusste das aber niemand. Immer, wenn die Techniker zu Kontroll- und Reparaturzwecken die Tür des Wandschranks öffneten, zog sich die Springmaus in dahinterliegende Kabelschächte zurück und wurde so nie entdeckt.
Nur manchmal, wenn ich abends, nachdem alle Kollegen schon die Abteilung verlassen hatten, noch am Schreibtisch saß und arbeitete, hörte ich hinter mir im Wandschrank leise Geräusche. Ich empfand sie weder als beängstigend noch als störend; sie hoben sich ja kaum von der gewohnten Umgebungsgeräuschkulisse ab - dem Rauschen der Festplatte und des Lüfters, dem Summen der Klimaanlage und den verhaltenen Verkehrsgeräuschen der nächtlichen Stadt von draussen. Ich interpretierte sie einfach als Schaltklicks des elektrischen Verteilers.
Einmal, als ich auf der Bürocouch übernachtete, wachte ich ungewohnterweise mitten im einsetzenden Dämmerschlaf wieder auf und war hellwach. Ich musste durch irgendetwas geweckt worden sein. Mit immer noch geschlossenen Augen lauschte ich zunächst auf das Telefon, weil ich vermutete, dass ich dadurch aus dem Schlaf geholt worden war. Eventuell wollte mein Chef mir noch etwas zum aktuellen Projekt mitteilen - er wusste ja, dass ich des öfteren über Nacht im Büro zu erreichen war. Das Telefon blieb jedoch stumm, ich war also nicht wegen einem Klingeln aufgewacht.
Plötzlich hörte ich ein leises, kratzendes Geräusch aus Richtung der Bürowand, in welcher sich besagter Schrank mit dem Verteilerkasten befindet. Ich öffnete langsam die Augen und richtete meinen Blick auf den Wandschrank. Da die Jalousien des Panoramafensters nicht geschlossen waren, konnte der Mond sein fahles Licht über den halben Raum ergießen, und durch das Streulicht wurden auch die Schattenzonen etwas aufgehellt.
Ich bemerkte, dass die Tür des Wandschranks etwa eine Handbreit offen stand, was eigentlich nicht sein konnte, weil ich nie irgendwelche Fächer, Schubladen oder Schranktüren offen lasse. Zuerst kam mir der Gedanke an einen Einbrecher. Es war jedoch ausser mir keine andere Person im Raum, und im Wandschrank war zu wenig Platz, als dass ein Mensch sich darin hätte verstecken können. Vielleicht war die Tür ja von alleine aufgegangen, weil sie das letzte mal nicht richtig geschlossen wurde.
Gerade überlegte ich, ob ich mir die Mühe machen sollte, aufzustehen und die Tür wieder richtig zuzudrücken, als mein Blick zufällig über die Zimmerdecke schweifte und an einem etwa faustgroßen Objekt hängenblieb, das sich an der Decke in der Nähe der Schranktür befand.
Leider hoben sich seine Konturen kaum von der Zimmerdecke ab, aber ich erkannte, dass es ein kleines Tierchen sein musste. Es sah aus wie ein dünnes, graues Eichhörnchen, und es hatte sich köpfüber in den Poren einer Deckenplatte festgekrallt.
Ausserdem schien es mich mit einem seiner schwarzen Knopfaugen zu fixieren. Ich hielt automatisch die Luft an, weil ich mir sicher war, es würde sofort in den Schrank zurückflitzen, wenn ich mich jetzt bewegte. Wahrscheinlich hatte es nicht damit gerechnet, dass im Zimmer jemand auf der Couch übernachtet und war jetzt über diese befremdliche Begegnung genauso überrascht wie ich.
Ein paar Sekunden vergingen, und plötzlich schossen mir mehrere Gedanken auf einmal in den Sinn. Eigentlich waren es aber keine Gedanken, sondern eher visionäre Bilder von atemberaubenden Sprüngen in Zeitlupe, Flügen über Baumwipfel und langsamem Schweben über Gebirgslandschaften und weiten, grasbewachsenen Hängen, die in tiefe Täler hinunterführten.
Ich begriff, dass dies nicht meine eigenen Erfahrungen waren; dieses seltsame Wesen versuchte, telepathischen Kontakt aufzunehmen, indem es Bruchstücke seiner Erinnerung in mein Bewusstsein projizierte.
Die Visionen änderten nun ihren Charakter... Ich fühlte mich gejagt und gehetzt. Ich war klein und struppig und das einzige meiner Art. Ich musste mich verstecken. Vorortsiedlungen huschten an mir vorbei, nächtliche Straßenlaternen und Ampelanlagen säumten die Flucht in Richtung City, dem Ort, an dem man mich am wenigsten vermuten oder suchen würde. Dann hohe Hinterhoffassaden, eine Parkanlage, Industriegebiet, und immer noch keinen sicheren Platz gewittert. Von einem fernen Taxistand weht der Wind Fetzen einer Funkverbindung herüber. Ein paar Straßenzüge weiter strecken die Hochhäuser der Innenstadt ihre gewaltigen Betonkörper steil in den Nachthimmel. Das ist mein Ziel.
Mit wenigen Sätzen hüpfe ich über einen menschenleeren Boulevard und nehme Deckung in der Krone einer Platane. Von hier ein Blick auf die mehrgeschossige Front des Kinopalasts am Ende der Allee. Die großflächige Neonreklametafel an der Front des Gebäudekomplexes wirkt wie ein Leuchtturmfeuer in der Dunkelheit: lockend, verheissend, sicher. Darüber gibt es noch drei Stockwerke - genug Platz, einen Schlupfwinkel zu finden. Inmitten der Jäger und doch unentdeckt. Dann ein paar weite Sprünge von Wipfel zu Wipfel, ein letzter Satz und ich lande auf dem Dach eines Anbaus. In Zeitraffer durch eine offene Fensterluke. Ein Lagerraum. Heizungs- und Lüftungsrohre. Kabel und Leitungen in engen Schächten. Bodenplatten, Verteiler, Schatten, Gitter. Ein Wandschrank...
Die Springmaus hatte mir ihre Geschichte erzählt. Leider war ich nicht in der Lage, eine telepathische Antwort zurücksenden. Als ich wieder an die Decke sah, war sie verschwunden. Ich stand auf, schloss leise die Schranktür, legte mich wieder auf die Couch und schlief ein.
Dies war das einzige mal, dass wir uns Auge in Auge begegneten, aber seit diesem Erlebnis wusste ich wenigstens, dass sie es war, wenn aus dem Wandschrank seltsame Geräusche zu hören waren. Niemandem erzählte ich jemals ein Wort darüber und hütete unser beider Geheimnis, bis ich den Vorfall nach Jahren, als ich längst schon nicht mehr dort arbeitete, wohl einfach vergaß...
Während der Uniformierte seinem Anführer Bericht erstattet, spüre ich, dass sich die Situation ändern und zuspitzen wird. Ein Großteil der grauen Truppe strömt nun im Laufschritt aus dem Vorführsaal, und auch die Zuschauer werden unruhig; das bisher verhaltene Gemurmel wird lauter, erstirbt aber, als der Anführer mit schnellen Schritten aus der Ecke herauskommt. «Ok, wer von euch später draussen auch nur ein Wort über die Sache verliert...», er grinst breit und nimmt theatralisch seine Armbrust vom Rücken, «... der wird ausgeschaltet.» Beim Wort ausgeschaltet richtet er andeutungsweise die Waffe auf einen nervösen Besucher in der zweiten Reihe, dem sofort Angstschweiss von der Stirn perlt.
In mir steigt langsam die Wut hoch; einerseits, weil wir den Film jetzt nicht zu sehen bekommen, andererseits, weil sich dieser Popanz hier unangenehm aufspielt. Es wird Zeit, dass ich etwas unternehme. «So'n Quatsch», sage ich für alle deutlich vernehmbar in die Stille.
Sofort stellt sich der graue Anführer breitbeinig vor mich. «Wie war das?» zischt er und starrt mich böse mit zusammengekniffenen Augen an. Er steht so nahe vor mir, dass ich seinen Atem spüre.
Seine Arroganz reicht mir jetzt, und ich leg es drauf an. Mit betonter Müdigkeit in der Stimme intoniere ich einen Singsang, den ich mit einem Offbeat-Klatschen begleite: «Neuen Pausenclown - holt nen neuen Pausenclown ... Neuen Pausenclown - holt nen neuen Pausenclown ...»
Die Augen des Anführers weiten sich. Mit geöffnetem Mund holt er tief Luft; er will mich wohl gleich anbrüllen. Aber ein Ruck durchfährt ihn, und milde lächelnd mustert er mich von oben bis unten. «Junger Freund, das wird sich noch zeigen, wer hier der Clown ist.» Dann wird er wieder ernst, nickt einem seiner Männer kurz zu, macht einen Schritt zurück und blickt streng in die Runde. «Noch jemand?» Alle sind mucksmäuschenstill.
Unterdessen eilt ein Uniformierter heran, zieht etwas (Handschellen?) aus seinem Gürtel und gibt mir ein Zeichen, ich solle aufstehen. Mein erster Impuls ist es, ihn zu provozieren, aber mir fällt gerade nichts ein. Soll ich ihm die Baretta aus dem Halfter reissen? Ich könnte blitzartig zugreifen, wenn ich mich zum Aufstehen vorbeuge; er würde nicht damit rechnen. Aber nein - sie sind in der Überzahl, da kann ich selbst mit einer Waffe nichts ausrichten. Während er ungeduldig vor mir steht, wandert mein Blick über seine Uniform. In der Nähe seiner Brusttasche entdecke ich einen kleinen aufgenähten Stoffstreifen, auf dem wohl sein Name eingestickt ist. Ihn vielleicht überraschen, indem ich ihn mit seinem Namen anrede? Leider ist das Garn durch häufiges Waschen so stark ausgebleicht, dass sich die Buchstaben kaum entziffern lassen. Lediglich das Initial des Vornamens, ein B, ist lesbar, aber das kann vieles bedeuten. Sein Gesicht ist ausdruckslos, die Sekunden verrinnen.
Nach kurzer Überlegung beschließe ich mitzuspielen. Ich erhebe mich aus dem Sitz und drehe mich herum. Er legt mir etwas um die Handgelenke. Seltsam, es fühlt sich nicht wie Metall an, eher wie Ringe aus Holz. Der Uniformierte packt mich am Arm und dreht mich herum. «Kommissionsleitung!» schnarrt der Anführer. Als man mich zügig Richtung Notausgang führt, wird im Saal wieder ängstlich gemurmelt.
Am Ende des Flurs halten wir vor einer Metalltür. Mein Bewacher klopft an. Von drinnen ertönt ein knappes «Ja!» - wir treten ein. Mehrere Grüppchen von Personen, manche in Uniform, manche in Zivil, stehen herum und diskutieren leise. In der Mitte des Raumes ein Tisch, auf dem Grundrisszeichnungen und Pläne verteilt sind. Ein Uniformierter, der die Schulterklappen eines Offiziers trägt, kommt auf uns zu. «Was gibts?»
«Kommissionsleitung.» antwortet mein Bewacher.
«Soso! Ausweis?»
Ich pule meinen Ausweis aus der Gesäßtasche und reiche ihn, soweit es die Handschellen zulassen, nach vorn. «Bin ich jetzt verhaftet?»
Der Offizier nimmt den Ausweis, deutet mit dem Kopf auf eine Tür am hinteren Ende des Raumes und meint nur «Dort warten.»
Es ist ein typisches Verhörzimmer: weiss getünchte kahle Wände, ein Tisch und zwei Stühle. Ich setze mich.
Nach kurzer Zeit taucht ein Zivilbeamter mit einer dicken Mappe auf. Zu meinem Bewacher sagt er «Danke, Sie können gehen. Und nehmen Sie ihm noch die Dinger ab.»
Als der Uniformierte die Handschellen wieder an seinen Gürtel steckt, sehe ich, dass sie wirklich aus Holz sind: hübsch gemasert und matt lasiert.
Der Beamte schließt hinter dem Uniformierten die Tür, lässt sich auf dem anderen Stuhl nieder und legt die Mappe vor sich auf den Tisch. «Tja, mein Lieber...»